Hannover, 19.06.2023
Im ersten Teil dieses Beitrags bin ich der Frage nachgegangen, wie generell beim Erstellen einer Customer Journey Map für einen Kunden der Life-Sciences-Industrie vorgegangen wird. In diesem zweiten Teil des Beitrags betrachte ich nun die Frage, ob der grundsätzlich beschriebene Verlauf typisch ist oder welche anderen Wege HCPs auf ihrer Reise einschlagen können.
Anhand von drei alternativen Wegen, die gleichberechtigt neben der idealtypischen Customer Journey gegangen werden können, werde ich beschreiben, wie eine Customer Journey aussehen kann, die eben nicht in der klassischen Reihenfolge, sondern nur zum Teil oder sogar in einer ganz anderen Weise verläuft.
Aus Gründen der Vereinfachung greife ich hier jeweils die im letzten Beitrag entwickelte Persona „Linda“ auf und lasse sie die drei nachfolgenden Szenarien erleben. Falls Sie die Persona von Linda aus dem vorherigen Beitrag noch nicht kennen, klicken Sie hier für mehr Details.
Szenario 1: Befürworter aber noch kein Kunde
„Linda erfährt auf dem Kongress der DGP, der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie, durch einen international bekannten Key Opinion Leader und Speaker (Thomas) von einem neuen Therapieansatz zur Behandlung der Lungenfibrose. Er berichtet sehr begeistert und authentisch von den Möglichkeiten, die sich bieten. Linda lässt sich von seiner Begeisterung anstecken und spricht den Referenten im Anschluss an seinen Vortrag an. Im direkten Austausch benennt er Linda gegenüber auch den Namen des Produkts, von dessen Einsatzmöglichkeiten er so fasziniert ist. So erfährt sie zum ersten Mal von unserem Produkt. Auch hatte sie unser Unternehmen und seine Produkte noch nicht mit der Behandlung der Lungenfibrose in Verbindung gebracht. Thomas beschreibt ausführlich die therapeutischen Ansätze, die damit möglich sind und die Wirkweise des Produkts. Da er die Entwicklung in den drei klinischen Phasen begleitet hat, kennt er das Produkt gut genug, um mit Expertenwissen zu überzeugen, was ihm bei Linda auch gelingt. Thomas unterstreicht die Vorteile einer Behandlung mit unserem Produkt und verweist auf die einschlägigen Studien bzw. benennt entsprechende Quellen, die seine Sicht bestätigen.
Linda nimmt die Eindrücke aus diesem Gespräch mit und liest sich im Anschluss in die Materie ein. Auch ihr erscheint der Therapieansatz mit unserem Produkt innovativ, vor allem aber über die Maße erfolgversprechend. In den vom Meinungsbildner genannten Quellen, aber auch über andere Materialien, auf die sie bei ihrer Recherche stößt, findet sie ihren ersten Eindruck bestätigt. Unser Produkt wird für sie zum Mittel der Wahl, vor allem in frühen Stadien der Lungenfibroseerkrankung.
Als Linda im Anschluss auf einer regionalen Veranstaltung in ihrem Heimatort auf ihre Eindrücke vom Kongress der DGP angesprochen wird, berichtet sie überzeugend von den mit unserem Produkt möglichen Therapieansätzen und ersten -erfolgen. Sie tritt so authentisch als Markenbotschafterin auf, dass sie selbst wiederum andere HCPs auf einen Einsatz neugierig macht. Sie selbst hat sich fest vorgenommen, das Produkt bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit einzusetzen, ist sich aber sicher, dass ihre Erwartungen zu 100% erfüllt werden, und teilt dies ihren Gesprächspartnern auch genauso mit.“
Wie Sie sehen, kann die Entwicklung einer Customer Journey auch ganz anders verlaufen, als erwartet. Wichtig bei dem Design verschiedener Customer Journeys ist vor allem kreativ zu sein und auch ungewöhnliche Szenarien zuzulassen. Vermeintlich unrealistische Szenarien von Anfang an auszuschließen kann im Einzelfall dazu führen, für konkrete unkonventionelle Fragestellungen keine Antworten oder Lösungen zur Verfügung zu haben. Auch bietet es sich an, für die entwickelten Personas Überschneidungen mit jeweils anderen Personas zuzulassen, wie hier für den Referenten Thomas geschehen. So kann ein virtuelles Kundennetzwerk bis hin zu einem eigenen „Kundenuniversum“ entstehen. Die auf diese Weise entworfenen Modelle sind dazu geeignet für zwei oder mehr Personas zur Anwendung zu kommen, da mit ihnen verschiedene Perspektiven eingenommen werden können.
Szenario 2: Innovator oder early adopter
„Linda nimmt an einer von unserem Unternehmen konzipierten und organisierten Veranstaltungsreihe zur Behandlung von Lungenfibrose im frühen Stadium teil und erfährt im Austausch mit weiteren Veranstaltungsteilnehmern erstmalig von unserem neuen Produkt. Die vermittelten Kenntnisse überzeugen Linda unmittelbar, so dass sie bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit unser Produkt bei einem Patienten einsetzt, der die Diagnose der Lungenfibrose durch einen Zufallsbefund erhalten hat und bei dem die Erkrankung noch in einem sehr frühen Stadium ist. Die Behandlung des Patienten verläuft erwartungsgemäß positiv, so dass bereits nach wenigen Wochen klar wird, dass der Krankheitsverlauf zumindest signifikant verlangsamt wurde und die Einschränkungen des Patienten bezüglich Lungenvolumen und Lebensqualität nur marginal sind und voraussichtlich auch bleiben werden.
Auf Grund dieser Erfahrungen berichtet Linda bei Erfahrungsaustauschen innerhalb ihres Netzwerkes aber auch auf Veranstaltungen, die sie besucht, von dem erfolgreichen Einsatz unseres Produkts. Sie vermittelt glaubhaft, dass zumindest bei allen ähnlich gelagerten Fällen unser Produkt das Mittel der Wahl, quasi alternativlos ist.“
Das hier entwickelte Szenario beschreibt den typischen Verlauf für sogenannte Early Adopter. Dabei handelt es sich um HCPs, die sich schnell für ein Thema begeistern lassen und Ideen entsprechend zügig umsetzen oder Produkte neu verordnen. Gelingt es dem Life-Sciences-Unternehmen den HCP davon zu überzeugen, den neu gewählten Ansatz beizubehalten oder sogar präferiert anzuwenden, so kann aus einem Early Adopter oder auch Innovator schnell ein Key Opinion Leader (KOL), also ein Meinungsbildner, werden. Als solcher tritt er dann für das Produkt oder sogar die Marke als Botschafter auf, der seinerseits Einfluss auf das Verordnungsverhalten anderer HCPs nimmt, weil er sich positiv zum Produkt oder Life-Sciences-Unternehmen äußert und andere mit seiner Begeisterung ansteckt.
Szenario 3: Kunde wandert ab
„Linda erfährt von unserem Produkt erstmalig durch einen befreundeten Arzt aus ihrem Netzwerk. Dieser beschreibt ihr den Therapieansatz und die Einsatzmöglichkeiten. Er selbst hat das Produkt aber noch nicht einsetzen können, mangels Gelegenheit. Daraufhin spricht sie unseren Kollegen aus dem Außendienst auf weitere Informationen und Erfahrungsberichte an, die dieser ihr zum einen per E-Mail zukommen lässt, der ihr aber auch vorschlägt, sich auf unserer Website zu registrieren, um z.B. Zugang zu Studienergebnissen und Erfahrungsberichten zu bekommen. Angetan von dem gezeichneten Bild entschließt sich Linda dazu, das Produkt baldmöglichst zu verordnen. Tatsächlich erhält sie kurz darauf die Gelegenheit, unser Produkt bei einer Patientin, die vor einem Jahr an Lungenfibrose erkrankt ist, einzusetzen. Diese Patientin hat mit ihrer bisherigen Therapie mit dem Produkt eines Marktbegleiters nicht die Ergebnisse erlangt, die sie sich gewünscht hätte und die nach Meinung von Linda mit unserem Produkt möglich gewesen wären. Sie bespricht mit der Patientin eine Umstellung auf unser Produkt und als diese zustimmt, stellt sie diese entsprechend ein.
Linda bestellt die Patientin wöchentlich zu sich ein, um den Verlauf der Therapie genau beobachten zu können, vor allem aber, um festzustellen, ob unser Produkt den gewonnenen Eindruck bestätigen kann. Tatsächlich bestätigt sich dieser Eindruck nicht so, wie erwartet. Zwar wird der Krankheitsverlauf verlangsamt und Symptome abgemildert, aber es tritt nicht die Wirkung ein, die Linda nach den dokumentierten Erfahrungen erwartet hatte. Sie recherchiert weiter und befragt insbesondere den Außendienstkollegen zu Erfahrungen ähnlicher Art. Da Lindas Fragen in hohem Maße medizinisch-fachlicher Natur sind, verweist sie der Vertriebsmitarbeiter an einen Kollegen aus unserem Medical Science Liaison Team. Dieser berichtet ihr dann, dass unser Produkt seine Wirkung vor allem bei den frühen Formen der Lungenfibrose voll entfalten kann. Bei der fraglichen Patientin ist die Erkrankung schon so weit fortgeschritten, dass man nicht mehr von einer frühen Form sprechen kann. Das ist der Grund, warum das Produkt nicht so anschlägt, wie erwartet.
Von dieser Erkenntnis ernüchtert, recherchiert Linda weiter und wählt für die Behandlung ihrer Patientin tatsächlich das Produkt eines dritten Anbieters, der ihr mit dem gewonnenen Wissen nun geeigneter erscheint. Sie stellt die Patientin erneut um, dieses Mal aber mit besseren Ergebnissen. Linda ist vor allem enttäuscht, dass sie über die regulären Kanäle keine entsprechenden Informationen über unser Produkt erhalten hat und bei ihr ein ganz anderer Eindruck entstanden ist. Aufgrund dieses Mangels an Transparenz und Konsistenz in den platzierten Botschaften nimmt sie von weiteren Verordnungen unseres Produkts Abstand. Sie informiert auch ihren Kollegen (Peter), der ebenfalls in ihrer internistischen Praxis tätig ist, von ihren Erfahrungen und bittet ihn, sehr sorgfältig zu prüfen, ob unser Produkt das Richtige für den jeweiligen Patienten ist oder zumindest Rücksprache mit ihr zu halten.“
Der Zweck von Szenarien wie dem hier beschriebenen ist, Schwachstellen bei den beim HCP platzierten Kernbotschaften oder bei der Darstellung verschiedener Patientenbilder (Kasuistiken) zu identifizieren und im Anschluss auszuräumen. Inkonsistente Produkt- oder Markenbotschaften innerhalb eines Kanals oder auch über verschiedene Kanäle hinweg können beim Kunden Irrtümer erzeugen, die im Ergebnis zu einer schlechten Customer Experience und sogar dazu führen, dass ein Kunde „abwandert“, wie hier geschehen. Fehler beim Verhalten des HCP zu suchen, hilft nicht dabei einen falschen Eindruck, den ein Kunde erhalten kann, von vorneherein zu vermeiden. Vielmehr ist es ratsam, sich auf solche Szenarien einzustellen und immer wieder zu evaluieren, ob die gewollten Eindrücke einer Überprüfung aus unterschiedlichen Perspektiven Stand halten. Nur so kann dazu beigetragen werden, dass die sogenannte „Churn Rate“, also die Rate an Kundenabwanderungen möglichst klein bleibt.
Fazit und Ausblick
Die hier beschriebenen Szenarien haben eins gemeinsam: sie stellen den HCP in den Mittelpunkt der Betrachtung. Dieser nutzt verschiedene Kanäle für die Touchpoints innerhalb der Customer Journeys, um an Informationen zu gelangen. Aber ist eine solche Perspektive überhaupt notwendig oder sinnvoll? Sind die hier getroffenen Annahmen relevant für die Kundengewinnung und das Customer Engagement? Diesen Fragen rund um den Aspekt der sogenannten Customer Centricity und den weiteren Faktoren, die im Zusammenhang mit der Customer Experience stehen, werde ich vertiefend im nächsten Beitrag nachgehen.
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