Hannover, 05.06.2023
Im letzten Beitrag habe ich die Customer Journey der Life-Sciences-Industrie und ihre fünf Phasen beschrieben. Im ersten Teil dieses Beitrags möchte ich der Frage nachgehen, wie eine Customer Journey für einen Kunden grundsätzlich konzipiert und dargestellt werden kann. Im zweiten Teil dieses Beitrags betrachte ich die Frage, ob der grundsätzlich beschriebene Verlauf typisch ist oder welche anderen Wege HCPs auf ihrer Reise einschlagen können.
Vorüberlegung – für welchen Kundentyp erstellen wir die Customer Journey Map?
HCP ist nicht gleich HCP. Es dürfte keine Überraschung sein, dass es auch aus Sicht eines Life Sciences Unternehmens unterschiedliche Kundentypen gibt. Diese können sich bezüglich der Fachgebiete sowie Interessensschwerpunkte unterscheiden. Aber auch die Persönlichkeiten spielen eine Rolle, da sie dazu führen, dass HCPs unterschiedlich angesprochen werden möchten. Schließlich ist die Wichtigkeit des individuellen Kunden für das Life-Sciences-Unternehmen ein weiterer Faktor, der berücksichtigt werden sollte. Ein Kunde mit einem hohen Potential an Verordnungen wird anders angesprochen, als ein HCP, der zwar vom Produkt sehr überzeugt ist, der aber in seiner Praxis kaum Patienten hat, denen er es verschreiben könnte.
Das Ziel dieser Vorüberlegungen soll sein, dass der Eindruck „alle HCP werden nach dem Gießkannen-Prinzip behandelt“ gar nicht erst entsteht. Die Customer Journey und die damit verbundene Customer Experience soll zu einem individuellen Erlebnis werden – der Kunde soll im Mittelpunkt stehen. In diesem Zusammenhang wird deshalb auch von Customer Centricity gesprochen. Um dies zu schaffen, entwickelt das Marketing sogenannte Personas. Personas sind fiktive Kunden, die möglichst detailliert beschrieben werden, damit der Marketer, der die Customer Journey Map entwickeln möchte, ein klares Bild vom Kunden hat. Eine solche Persona könnte aus Sicht eines Life-Sciences-Unternehmens wie folgt aussehen:
Beispiel-Persona
„Linda ist Internistin, 42 Jahre alt, verheiratet und Mutter von 2 Kindern (3 und 7 Jahre). Sie wohnt in einem Eigenheim, in dem auch ihre internistische Praxis untergebracht ist. Nachdem Linda zuvor 8 Jahre in der Abteilung Innere Medizin des städtischen Krankenhauses als Stationsärztin gearbeitet hat, hat sie vor 4 Jahren die jetzige Praxis übernommen. Sie beschäftigt in ihrer Praxis 3 Arzthelferinnen, eine davon in Teilzeit. Seit einem Jahr bekommt sie Unterstützung durch einen weiteren Internisten (Peter), der an drei Tagen in der Woche in der Gemeinschaftspraxis tätig ist. Die Patienten, die in Lindas Praxis kommen, haben typische internistische Erkrankungen, allen voran Diabetes Typ II, sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Allerdings interessiert sie sich besonders für Erkrankungen der Lunge, insbesondere die verschiedenen Formen der Lungenfibrose. Das Interesse resultiert noch aus ihrer Tätigkeit auf der internistischen Station, wo schwerpunktmäßig Lungenerkrankungen behandelt wurden und wo sie ersten Erfahrungen mit Lungenfibrosepatienten sammeln konnte. Sie strebt deshalb die Zulassung zur Pneumologin als 2. Fachrichtung an. Neben den Behandlungsmethoden für die Lungenfibrose in ihrer jeweiligen Form, geht sie vor allem der Frage nach Ursachen und Möglichkeiten der Früherkennung nach und ist deshalb mit weiteren Ärzten unterschiedlicher Fachrichtungen gut vernetzt. Gerne würde sie an entsprechenden klinischen Phase 1- bis Phase 3-Studien mitwirken.
Bei der Behandlung von Patienten, bei denen Lungenfibrose diagnostiziert wurde, ist Linda nicht grundsätzlich auf ein bestimmtes Behandlungsschema oder gar Produkt festgelegt, sondern wählt die Therapie und das Produkt, das für den Patienten in der jeweiligen Krankheitsphase am geeignetsten erscheint. Sie erwägt sorgfältig auch Naturheilfahren, Ernährungsweise und Sport in den Behandlungsplan zu integrieren, sofern möglich und sinnvoll. Ihr Ziel ist es stets, die Erkrankung so früh wie möglich zu erkennen und den Krankheitsverlauf zu stoppen, um möglichst viel Lebensqualität zu bewahren.
In ihrem Heimatort, einer mittelgroßen Stadt von 200.000 Einwohnern, hat sich Linda mittlerweile einen Namen zu dem Thema Lungenfibrose gemacht und die Zahl der Patienten mit diesem oder ähnlichen Krankheitsbildern steigt kontinuierlich in den letzten 3 Jahren. Patienten mit Lungenerkrankungen machen bei ihr mittlerweile einen Anteil von 30-40% aus.“
Auf den Grundlagen von Personas Customer Journey Maps entwickeln
Im nächsten Schritt geht es darum, die einzelnen Stationen auf der Reise möglichst genau zu beschreiben. Welche Anknüpfungspunkte bietet denn die „Geschichte“ rund um „Linda“, um mit der Reise zu beginnen? Schauen wir uns doch einmal verschiedene Varianten für die ersten Touchpoints an, die Linda in der ersten Phase der Customer Journey haben könnte:
Beschreibung Variante 1
„Linda erfährt durch einen neuen Patienten von unserem Produkt zur Behandlung der Lungenfibrose im Frühstadium. Der Patient hat durch einen Zufallsbefund frühzeitig von der Erkrankung erfahren und sich im Internet in das Thema eingelesen. Linda recherchiert nun selbst zu dem Produkt über unsere Website und registriert sich sogar mit ihrer Praxis-E-Mail-Adresse, um Zugriff auf exklusive Inhalte für Ärzte zu erhalten. Über einen Chat-Bot auf der Website äußert sie den Wunsch, durch einen Pharmareferenten kontaktiert zu werden, der ihr im direkten Gespräch weitere Fragen zum Einsatz des Produkts beantworten kann. Der für Lindas Region zuständige Außendienstmitarbeiter kontaktiert Linda umgehend und vereinbart mit ihr einen ersten Kontakt in ihrer internistischen Praxis.“
Beschreibung Variante 2
„Linda erfährt von einem ärztlichen Kollegen innerhalb ihres Netzwerkes von unserem Produkt und dass er bereits erste, vielversprechende Erfahrungen gemacht hat. So konnte der Fortschritt der Erkrankung schon nach den ersten Einnahmen signifikant verlangsamt werden. Linda recherchiert über die Website unseres Unternehmens die Service-Telefonnummer und ruft beim Customer Service Team an. Sie erkundigt sich nach aussagekräftigen Studienergebnissen und wie sie diese erhalten kann. Der Service-Mitarbeiter empfiehlt ihr zum einen, sich auf unserer Website zu registrieren, um einen ersten Einblick in die entsprechenden Fachinformationen und dokumentierte Erfahrungsberichte von HCPs und Patienten nehmen zu können. Zum anderen bietet er ihr auch an, ihr direkt an ihre E-Mail-Adresse die ersten relevanten Inhalte zuzusenden, vorausgesetzt, sie bestätigt die zunächst mündlich erfasste Einwilligung zur Verwendung ihrer E-Mail-Adresse über die zugestellte Bestätigungs-E-Mail. Linda nimmt beide Optionen wahr. In der E-Mail erhält sie sodann Informationen über eine für ihre Region geplante medizinische Veranstaltung, in der über die verschiedenen Formen der Lungenfibrose sowie die verschiedenen Krankheitsstadien informiert wird. Sie meldet sich zu dieser Veranstaltung, die von unserem Unternehmen organisiert wird, an.“
Beschreibung Variante 3
„Linda wird erstmalig von dem für ihre Stadt zuständigen Außendienstmitarbeiter besucht. Er ist neu bei unserem Unternehmen und besucht Linda, da sie mit ihrem Profil zu seinen Zielkunden gehört. Er stellt sich Linda vor und bietet ihr Informationen zu unserem Lungenfibroseprodukt an. Sie teilt ihm mit, dass sie sehr an diesen Informationen und der Möglichkeit eines Einsatzes interessiert ist. Allerdings zieht sie es vor, die Zeit in der Praxis den Patienten widmen zu können. Sie fragt, ob Kontakte nicht auch telefonisch oder sogar remote durchgeführt werden können. Der Pharmareferent bestätigt, dass es diese Optionen gibt, dass er dazu aber ihre E-Mail-Adresse und Telefonnummer bzw. Mobilfunknummer benötigt. Linda erteilt ihm mit digitaler Unterschrift die Einwilligung zur Verwendung der Praxis-E-Mail-Adresse sowie des Festnetzanschlusses der Praxis. Der Außendienstmitarbeiter bedankt sich für das Vertrauen und vereinbart einen ersten Termin für eine Videokonferenz. Er fragt, ob der Kollege (Peter) auch Interesse an dem Thema Lungenfibrose hat, da der Remote Call ja auch mit Mehreren geführt werden könnte, was Linda bejaht. Der Außendienstmitarbeiter bespricht mit ihr auch, dass er ihr gerne nach dem Remote Meeting einen Fragebogen zusenden möchte, um Feedback zum Termin zu erhalten. Linda stimmt zu.“
Wie wir sehen, kann es ganz unterschiedliche Verläufe geben, wie ein HCP von einem Produkt oder einem Life-Sciences-Unternehmen Kenntnis erlangt. Die hier exemplarisch beschriebenen und dargestellten Szenarien und noch etliche weitere denkbare Wege werden im Marketing üblicherweise in einem Kampagnen-Management-System abgebildet. Da es auch möglich ist, dass es Mischformen bzw. Überschneidungen bei den erdachten Customer Journey Maps gibt, werden diese nebeneinander bzw. sich überlagernd dargestellt. Das bietet den Vorteil, dass individuelle Anpassungen oder gänzlich neue Szenarien schnell visualisiert werden können. Schließlich lassen sich auf diese Weise auch Omnichannel-Ansätze viel leichter abbilden, wie das folgende Bild zeigt:
Komplexität reduzieren oder steigern – was ist der richtige Ansatz?
Die hier gezeigten Auszüge aus Customer Journey Maps stellen für sich genommen lediglich unterschiedliche Einstiegsszenarien innerhalb der 1. Phase dar, in der ein potenzieller Kunde erstmalig Kenntnis vom Produkt oder dem Life-Sciences-Unternehmen erlangt. Man kann sich leicht vorstellen, in welchem Maße die Komplexität zunimmt, wenn Customer Journey Maps für unterschiedliche Personas, für mehrere Produkte und über eine Vielzahl von Kanälen zu verschiedenen Customer Journeys erdacht werden, wie z.B. die
- Entwicklung eines Interessenten zum Kunden,
- Entwicklung eines Kunden zum loyalen Kunden,
- Entwicklung eines Kunden zum Befürworter eines Produkts sowie
- das Verhindern der Abwanderung von Kunden und
- die Rückgewinnung von ehemaligen Kunden.
Sicherlich ist es möglich die Komplexität zu reduzieren. Stellt man die Customer Journey nicht wie hier aus Sicht des Kunden dar, sondern z.B. aus Sicht der Aktivitätenplanung eines Außendienstmitarbeiters, dem nur eine begrenzte Anzahl an Kanälen zur Verfügung stehen wie z.B.
- Besuche,
- Remote Meetings,
- Rep Triggered E-Mails,
- Telefongespräche oder
- Veranstaltungsteilnahmen der HCPs,
so reduziert sich der Umfang einer Customer Journey für unterschiedliche Personas in signifikanter Weise.
Entsprechendes gilt aus Sicht des Marketings, die ebenfalls nur einige Kanäle steuern, wie
- Corporate E-Mails,
- Webseitenaufrufe, -registrierungen und -nutzung durch HCPs,
- Chat Bots oder
- Registrierung und Nutzung von Apps des Life-Sciences-Unternehmens.
Auch eine rein produktorientierte Perspektive lässt sich abbilden. Jedoch führen solch einseitige Betrachtungen nicht zum gewünschten Ziel, Kunden zu gewinnen und dauerhaft an sich zu binden. HCPs erwarten heutzutage, dass Ihnen Informationen und Services der Life-Sciences-Unternehmen über unterschiedlichste Kanäle in personalisierter Form zur Verfügung stehen, und zwar mit nahtlosen Übergängen und ohne Zeitverzug. Deswegen sollten in der Customer Journey Map auch Emotionen beschrieben werden, und zwar positive, neutrale sowie negative, um Schwachstellen bei der Customer Experience zu erkennen und gegenzusteuern – selbst, wenn damit die Komplexität der Customer Journey Map sogar noch gesteigert wird. Um diesen Ansatz besser zu verstehen, werde ich diese Aspekte und einige weitere Grundprinzipien in einem späteren Beitrag zum Thema Customer Experience erneut aufgreifen und vertiefen.
Wie kann ich meine gesammelten Erfahrungen effektiv nutzen?
Auf Grund der beschriebenen Komplexität ist eine Analyse der mit jedem Touchpoint erfassten Daten notwendig, ja unverzichtbar. Erfasste Daten von HCPs, die den erdachten Personas entsprechen, müssen analysiert werden, um schlussfolgern zu können, wo eine Customer Journey Map die tatsächlichen Erwartungen der Kunden trifft, wo sie aber auch daneben liegt und angepasst werden muss. Diese Form der Maintenance sollte im Schnitt alle 6 Monate erfolgen. So kann das Risiko reduziert werden, dass an den Bedürfnissen der HCPs vorbeigeplant wird. Da die Datenmenge in der Konsequenz exponentiell zunimmt, bedienen sich Life-Sciences-Unternehmen hierbei in immer größerem Maße des Machine Learnings, sowie Next Best Action Ansätzen, wie wir in späteren Beiträgen noch sehen werden. Diese Konzepte unterstützen dabei, die nächsten Schritte des Kunden auf seiner Reise vorherzusagen. So sollen Empfehlungen generiert werden, welche Touchpoints zu erwarten bzw. in die Customer Journey zu integrieren sind. Die auf diese Weise erhaltenen Daten werden unter Zuhilfenahme der künstlichen Intelligenz folglich dazu verwendet, die Customer Journey zu optimieren.
Damit haben wir das Ende dieses Teils erreicht. Wir haben einen ersten Eindruck über die Einsatzmöglichkeiten für eine Customer Journey im Life-Sciences-Umfeld gewonnen. Im bald folgenden nächsten Blogbeitrag werde ich mich den eingangs erwähnten atypischen Szenarien zuwenden.
Mehr Insights gefällig?
Lesen Sie unsere weiteren Blogbeiträge zum Thema Customer Journey!
Omnichannel-Management: Der Wandel von der product centricity zur customer centricity (1/3)
In diesem Beitrag geht es um die Frage, was Omnichannel-Management ist und wie es sich von anderen Konzepten unterscheidet.
Life-Sciences-Kunden in der Customer Journey abbilden (2/2)
Der idealtypische Verlauf der Customer Journey mit den Phasen 1 bis 5 nicht immer realistisch. Betrachten Sie auch alternative Wege, denen Ihre HPCs folgen.
Life-Sciences-Kunden in der Customer Journey abbilden (1/2)
Lernen Sie Ihre Kunden durch die Entwicklung von Customer Journey Maps für verschiedene Personas besser kennen und verbessern Sie so Ihr Customer Engagement.
Die Customer Journey in der Life Sciences Branche: Den Kunden mit auf eine Reise nehmen – was bedeutet das?
Entwickeln Sie Ihre Kontakte entlang der Customer Journey zu nachhaltigen Kunden. Worauf dabei im Life Sciences Umfeld zu achten ist, verraten wir Ihnen hier.